30.06.2024
„Gnade vor Recht oder besser Recht vor Gnade?“

Das biblische Thema für die neue Woche ist etwas sperrig. Bei einschlägigen Lexika findet sich folgende Begriffsbestimmung: ‚Gnade ist eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung.‘

Und bei Wikipedia: „Das Wort ‚Gnade‘ ist ein speziell christlicher Begriff.“ Tatsächlich kommt er nur noch selten in unserem Sprachgebrauch vor. Allenfalls in ein paar Redewendungen, wie: „Er hat die Gnade der späten Geburt“, will meinen, erst nach 1945 geboren.

Meist begegnet uns die negative Form: Gnadenlosigkeit erleiden, in Ungnade fallen; wer möchte das schon? Ein Begriff, der in der Rechtsprechung seinen Lebenssitz hat. Nach einem harten Urteil kann es eine Begnadigung geben. Aber es muss nicht! Ein gnädiger Richter setzt nicht automatisch das Höchstmaß an, sondern wertet die Umstände der Tat. Ich hatte so einen Vater, der häufig Gnade vor Recht ergehen ließ. Gott sei Dank! Und ich hatte als Heranwachsender einiges auf dem Kerbholz! Heute scheint es bequemer zu sein, den Anwalt zu bemühen, als mal über den Gartenzaun ein versöhnliches Wort zu reden. „Ist doch mein gutes Recht!“  Also lieber Recht vor Gnade? „Aus Gnade seid ihr gerettet durch den Glauben. Das ist Gottes Geschenk!“ Epheser 2,8 Der biblische Spruch für die vor uns liegende Woche wechselt die Perspektive. Gnade als unverdientes Geschenk! In unserer auf Erfolg und Leistung orientierten Welt klingt das verdächtig nach Schwäche, Mangel an Durchsetzungskraft, nach Versagen. In allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen scheint einmal mehr das „Argument der Stärke“ zu zählen, weniger die „Stärke der Argumente“. Ich wünsche mir sehr, dass gerade für Christenmenschen auch die leisen und behutsamen Stimmen, die sich für menschenwürdige Lösungen in unserer Welt einsetzen, Gehör finden. Denn „Aus Gnade sind wir gerettet durch den Glauben - Gottes Geschenk!“ Das dürfen und müssen wir uns immer wieder sagen lassen!

Amen

Superintendent Michael Kleemann, Stendal