23.06.2022
Die Kraft der Träume

"Träum weiter", hat jemand in die Scheibe des Abteils geritzt. Solche Kritzeleien nerven meist. Aber diese beiden Worte beschäftigen mich doch länger. "Träum weiter!“ Ich vermute, das ist eher kritisch, vielleicht sogar ein bisschen böse gemeint: Träum nur weiter, Mensch in deiner grenzenlosen Naivität, in deinem unverbesserlichen Optimismus. Träum nur weiter, die Menschen seien gut und die Welt wäre noch zu retten. Träum nur weiter, die Dinge würden schon gut ausgehen. Das Gegenteil wird der Fall sein.

Nun ja, das könnte so sein. Kaum jemand wird bestreiten, dass es um unsere Welt nicht zum Besten steht. In der Ukraine zerstört Putins Krieg täglich Tausende Leben und der Corona-Albtraum will einfach kein Ende nehmen. Die Preise explodieren und im fünften Trockenjahr in Folge verdorren die Bäume in den Wäldern und die Ernte auf den Feldern. Vieles sieht nicht gut aus, wenn man es zu Ende denkt. Wie wird unsere Erde in 10, 20 oder 30 Jahren aussehen? Die Modelle der Zukunftsforscher lassen wenig Gutes ahnen. Kann sein, es ist eine Gnade, das nicht sehen zu müssen.

Kann aber auch sein, dass der Mensch sich noch besinnt und lernt, friedlicher und nachhaltiger zu leben. Die „Fridays for future“-Demos geben ja Anlass zu Hoffnung. Und auch politisch tut sich gerade einiges. Endlich! Wie es ausgehen wird, „steht noch dahin", hat Marie Luise Kaschnitz einmal gedichtet.

Als Christinnen und Christen halten wir trotz aller düsteren Prognosen an der Hoffnungen und unseren Träumen fest. Weil wir darauf vertrauen, dass es -so oder so- gut ausgehen wird. Nicht weil wir Menschen es irgendwie schon richten werden. Sondern weil wir glauben, dass wir nicht aus unserer eigenen Kraft heraus leben und dass am Ende Gott sein wird.

„Frieden lasse ich euch. Meinen Frieden gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“, sagt Jesus im Johannes-Evangelium. Das ist die Hoffnung, aus der wir leben, und der beste und tiefste Grund, zu träumen: Dass wir aus einer Kraft, einem Frieden, einer Hoffnung leben dürfen, die wir uns nicht selbst geben können und müssen.

Weil das so ist, stimmt für den Glauben der oft so gut gemeinte Satz nicht: "Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Woher denn! Aus der Sicht des Glaubens stirbt die Hoffnung nie. Sie ist der Traum, aus dem wir Kraft und Zuversicht gewinnen. Bis einmal unsere Welt ein Ort sein wird, wo „Recht und Gerechtigkeit sich küssen“.

Bis es soweit ist, lasse ich mich gern ermuntern: "Träum weiter“. Dass diese Aufforderung nun, in ein Abteilfenster geritzt, kreuz und quer durchs Land fährt, finde ich ermutigend.

 

Markus Schütte,

Dompfarrer in Stendal.