15.03.2021
Das Wort zum Sonntag vom 14.03.2021

Altersweisheiten

„Trotz Lockdown vorsichtige Erleichterungen: Restaurants öffnen für Geimpfte.“ Was löst diese „Schlagzeile“ bei Ihnen aus? Keine Sorge, noch ist sie nicht gedruckt. Ich habe sie nur erfunden. Aber wäre das für Sie denkbar?

Ich telefoniere in diesen Tagen viel mit den Älteren in unserer Gemeinde. Der Sonntagsgottesdienst ist ihnen als Anlaufpunkt geblieben, aber die gemeinsamen Nachmittage im Gemeindehaus fallen schon seit Monaten aus. Freunde, Familie und Besuche fehlen. Da bleiben oft nur das Telefon, der Fernseher und das Warten auf die Impfung. „Haben sie denn schon einen Impftermin?“ frage ich. „Nein.“ antwortet mir die Seniorin am anderen Ende und fährt lachend fort:  „Ich bin ja leider erst 78.“  Sie nimmt es mit Humor und das beeindruckt mich. Welche Alters-, Risiko- und Berufsgruppe wann geimpft werden soll, wird gerade heiß diskutiert und nicht immer geht es da so gelassen zu. Kann es ja wohl auch nicht, denn die Kriterien, nach denen da entschieden wird, liegen nicht einfach auf der Hand. Sie müssen erarbeitet werden. Dafür gibt es eine Ethikkommission. Grundsätzlich gilt „die Schwächsten zuerst“, so kann man es auf der Homepage der Bundesregierung nachlesen. Doch mit Blick auf die Impfreihenfolge meldet sich auch der „Impfneid“. Ein  ganz neues Wort im deutschen Sprachgebrauch, schon jetzt ein Favorit für das Unwort 2021.  

Neid ist nach altkirchlicher Tradition eine der sieben Todsünden. Nun ist er nicht etwa im wahrsten Sinne des Wortes  tödlich, aber er kann einem das Leben schon ganz schön vergällen. Stellen wir uns nur einmal vor, Geimpfte dürfen demnächst auch wieder ins Kino, ins Restaurant oder in den Club gehen? Wer wäre da nicht neidisch? Vor allem unter denen, die darauf wohl noch etwas warten müssen. Die Frage ist, kann ich dem anderen trotzdem gönnen, was ich selbst nicht habe? Wenn die ersten „Ü70-Clubs“ endlich wieder aufmachen in der Kirchengemeinde, bei der Volkssolidarität oder im Seniorensport, dann sei es allen, die hingehen dürfen, gegönnt! In der Pandemie werden sie als die „Schwächsten“ in unserer Gesellschaft betrachtet, aber die Älteren sind viel mehr. Vor allem erlebe ich sie oft gelassener, vielleicht weil sie aus eigener Lebenserfahrung wissen: es wird auch wieder bessere Zeiten geben. Für manche ist das einfach eine Altersweisheit. Für andere ist es Ausdruck ihres Gottvertrauens, wie es auch der Prophet Jesaja (Kapitel 46 Vers 4) seinen Leuten in Gottes Namen nahe gebracht hat:  „Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet … ich will heben und tragen und erretten.“  Das gilt nicht nur für die „Ü70“, denn eins steht fest, grau werden wir alle einmal und ich hoffe, dass wir dann immer noch in  einer Gesellschaft leben, die auch das Alter zu schätzen weiß.

Pfarrerin Claudia Katharina Rost, Tangerhütte