28.12.2024
Alle blind …?
„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild …“ Korinther 13,12
Das ist ein Wort aus dem Hohen Lied der Liebe im Neuen Testament. Dies Hohelied könnte man auch zu Weihnachten singen … dem Fest der Liebe … dass es das ist, das wünscht man sich jedenfalls, und erkennt manchmal bitter, daß es immer wieder ganz anders kommt, weil es entsprechende Unglücke in der Welt oder in einem selbst gibt. Vielleicht darf man nicht zu viel erwarten, auch von sich selbst nicht, wie folgende Legende zeigt.
Ein König braucht für seinen Beobachtungsturm einen neuen Wächter. Er wird dafür auch sehr gut bezahlen. Die Arbeit lockte kaum, denn sie war anstrengend und langweilig, aber die Bezahlung war wirklich außergewöhnlich und deswegen stellten sich viele Bewerber vor. Der König hörte sich von weitem an, was den Bewerbern so für Fragen gestellt wurden, nach ihren Schlafgewohnheiten, nach ihrer Zuverlässigkeit, nach der Schärfe ihrer Sinne und so weiter. Als nur noch fünf Bewerber übrig blieben, beschloss er, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Es sollte noch ein letzter Test erfolgen, ein Sehtest. Und jeder erwartete jetzt, daß der König den Bewerbern ein Fernrohr in die Hand geben würde, damit sie zeigen konnten, wie weit sie damit schauen konnten. Überraschenderweise bekamen sie aber alle nur einen Spiegel, und jeder sollte sagen, was er darinnen sähe. Der erste sagte, ich seh einen Helden, der es mit jedem Feind aufnehmen kann. Der zweite sagte, ich erkenn einen Adler, der jeden Feind schon in der äußersten Weite erspähen kann. Der dritte sprach, ich seh einen Heiligen, der nie schlafen wird. Der vierte meinte, ich sehe einen Löwen, der sich vor nichts fürchtet. Nur der fünfte schaute etwas länger in den Spiegel und meinte dann voll bitterer Selbsterkenntnis: In Taten ein Taugenichts, in Worten ein Bösewicht und in Gedanken ein Ungeheuer. Der König erwählte den fünften mit den Worten, die anderen vier scheinen alle irgendwie blind zu sein.
Amen.
Pfarrer i.W. Michael Nolte aus Quarnebeck.