13.12.2023
Lieder aus dem Jammertal

Mir fällt die Advents- und Weihnachtszeit in diesem Jahr schwer. Es wird für die Menschen in Ukraine wieder ein Weihnachten im Krieg. Die christliche Friedensbotschaft scheint so arm und wirkungslos. Die Mächtigen wüten ohne Sinn und Verstand. Die normalen Menschen leiden.

Viele Texte, die wir in den Kirchen in der Advents- und Weihnachtszeit lesen, sind aus dem Alten Testament. Sie künden dem Volk Israel Hoffnung und Frieden an. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem internationalen Beistand für die Täter, fühlt es sich wie Diebstahl an, diese Bibelworte für meine Gottesdienste zu verwenden.

Wie soll ich laut singen, dass die Tochter Zion sich freuen soll und Jerusalem jubeln? Schrecken und Trauer liegen über Jerusalem. Advent und Weihnachten scheinen aus dem Rahmen gefallen.

Als Jugendlicher habe ich mich gefragt, warum viele Adventslieder in unserem Gesangbuch traurig sind und das Leben beweinen. Die Adventszeit soll doch fröhlich sein. Wir haben Plätzchen gebacken und gegessen. Wir haben das Haus geschmückt und Weihnachten vorbereitet. Alle waren emsig. Im Fernsehen liefen die guten Filme. Ferien machten diese Zeit perfekt. Wir haben uns gefragt, was wir schenken werden und was wir geschenkt bekommen. Die Luft knisterte wegen all der Vorfreude.

In den Gottesdiensten ärgerte ich mich über die Adventslieder, die von dieser Welt als Jammertal singen. Sie waren mir fremd. Warum mussten wir diese alten Trauer- und Schauerlieder singen? Oft geht es um Angst, Leid und Schmerz, um ewigen Tod, um Fluch und Teufel, um Sünde und Gericht. Nicht selten sind die Lieder in Moll gesetzt oder haben eine zähe Melodie. Mein jugendliches Ich fand das wenig einladend und zeitgemäß.

Später habe ich gelernt, dass diese ernsten Adventslieder zu Zeiten der Pest, während des Dreißigjährigen Krieges oder anderer Nöte geschrieben wurden. In ihnen klingen die Erfahrungen und Ängste von Versehrten und Betroffenen an.

Ein Wunder, dass diese Menschen überhaupt noch Lieder schreiben und singen konnten. Sie haben ihre Not in ihren Glauben eingepackt. Sie haben ihre Not und ihren Glauben in Liedern zu Wort und Ton gebracht.

Ich werde an diesem dritten Advent wohl etwas leiser singen. Und ich werde mir mehr der ernsten Lieder zutrauen. Sie geben den stummen Seelen Worte. Sie geben den trauernden Herzen Melodien. Sie geben den zweifelnden Menschen Glauben.

Dabei übertönen sie das Schwere im Leben nicht. Es wird nicht verdrängt oder überspielt. Das Schwere bekommt seinen Platz – in der Klage zu Gott und in dem Ruf nach Zuwendung.

So singt der erwachsene Glaube, der leidgeprüft ist. So singt das Herz, dem die Not zu schaffen macht. So singt die Seele aus dem Jammertal. Das klingt dann, wie es klingt. Aber: Wir singen.

Gott segne Sie in Freudenfesten und im Jammertal.

Pfr. Manfred Kiel (Schönhausen)