15.03.2023
Zeit zu trauern
Ich sitze in der Winterkirche. Die Eingangsmusik klingt in meinen Ohren. Durch das Fenster strahlt eine prächtige Sonne. Der ganze Raum ist lichterfüllt.
Jetzt geht es los. Ich stehe auf und begrüße die Gemeinde. Ich stocke kurz. Meine Notizen erklären, dass wir in der Passionszeit sind. Die Zeit, in der wir dem Leiden, der Trauer und den schwierigen Erfahrungen besonders Raum geben. Ich will nicht. Es ist doch so schön. Ich schaue in die Gesichter der Gemeindeglieder. Ihnen scheint es ähnlich zu gehen. Es ist ein richtiger Sonn-tag. Mich blicken frohe und erwartungsvolle Menschen an. Jetzt muss ich gleich die Stimmung zerstören.
Kurz entschlossen mache ich genau diese Gedanken zu meiner Begrüßung. Denn so ist es doch. So ist es doch - nur allzu oft.
Eben noch Sonnenschein, dann Unwetter. Eben war die Welt noch in Ordnung und plötzlich bricht sie zusammen. Eben war noch alles gut, dann der Anruf, die Diagnose, die Meldung, der Unfall, der eine Moment, der alles verändert.
Jede Familie kennt das. Jede und jeder trägt ein eigenes Bündel durch das Leben.
Diese Erfahrungen haben Raum in der Passionszeit. Hier sollen sie zur Sprache kommen. Hier kann und soll beklagt und getrauert werden. Zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag ist Zeit und Raum für die dunklen Seiten des Lebens.
In manchen Kirchen gibt es besondere Passionsandachten, die zur Besinnung einladen. In Städten gibt es in Regel offene Kirchen. Dort kann man sich auf eine Kirchenbank setzen und zur Ruhe kommen. Aber auch zuhause ist das möglich: Fernseher und Radio ausschalten, sich ein ruhiges Plätzchen suchen und die eigenen Gedanken vor Gott sortieren. Wen vermisse ich? Was fehlt mir? Worüber ärgere ich mich? Was lastet mir auf der Seele?
Manchmal klagt es sich allein schlecht. Manchmal liegt mehr auf der Seele, als man allein aushalten kann. Auch dafür sind Pfarrerinnen und Pfarrer da. Sprechen Sie ihren Pfarrer, ihre Pfarrerin an.
Die Passionszeit hat ihren besonderen Charakter. Sie erinnert uns daran, dass uns Leid, Scheitern, Misstrauen, Neid, Angst, Sorgen, Krankheiten, Verrat und Tod treffen. Das ist nicht schön. Das fühlt sich nicht gut an. Niemand will das.
Ich erinnere mich daran, wie oft und bitterlich mein Opa nach dem Tod meiner Oma in Tränen ausbrach. Ich erinnere mich, wie ich einmal etwas sagen wollte. Ich wollte ihn trösten… ach, eigentlich konnte ich mit der intensiven Trauer nicht umgehen. Ich war kaum erwachsen, als es passiert war. Es war mir zu viel. Gerade als ich irgendwas Schlaues als Trost sagen wollte, kam mir der Gedanke: "Nein. Nein, hier gibt es nichts zu sagen. Kein Wort kann einen Menschen aufwiegen. Hier kann man nur klagen und trauern."
So betet jemand in der Bibel zu Gott: „Aus der Tiefe meiner Not schreie ich zu dir. Höre auf meine Stimme. Vernimm mein lautes Flehen!“
Pfr. Manfred Kiel
Schönhausen (Elbe)